Erinnerung an 1848/49 in Lörrach: der lokale und der europäische Blick
Jan Merk
Die Revolution 1848/49 ereignet sich europaweit und ist damit einzigartig in der Geschichte. Dies lässt sich brennpunktartig im Dreiländereck um Lörrach, Basel und Mulhouse nachvollziehen. Frankreich setzt mit der Februarrevolution 1848 das Signal für den Kontinent, doch bereits im Juni werden Arbeiterunruhen brutal zusammengeschossen. 1852 endet schließlich die Zweite Republik mit dem neuen Kaiser Louis Napoléon Bonaparte. In der Schweiz symbolisiert 1847/48 hingegen das Ende der Eidgenossenschaft des Ancien Régime. Die restaurativen Kräfte unterliegen im „Sonderbundskrieg“ und es gelingt 1848, die mit Revisionen bis heute gültige moderne Bundesverfassung zu verabschieden. Auch in den 38 Einzelstaaten des Deutschen Bundes machen die Fürsten im März 1848 viele Zugeständnisse, darunter die Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments zur Ausarbeitung einer Reichsverfassung in der Frankfurter Paulskirche. Allerdings festigen die Monarchen zügig wieder ihre Position und der preußische König lehnt im Frühjahr 1849 die ihm angetragene Kaiserwürde schroff ab.
SCHAUPLATZ BADEN
Baden nimmt während der Revolution eine Vorreiterrolle ein. Hier gibt es seit 1818 eine Verfassung und einen Landtag, die Bevölkerung nimmt am politischen Geschehen teil. Die radikaldemokratischen Mannheimer Anwälte Friedrich Hecker und Gustav Struve scheitern im Vorparlament zur Frankfurter Paulskirche mit ihrem Antrag zur sofortigen Ausrufung der Republik. Sie halten nichts von einer konstitutionellen Monarchie und organisieren zwei Aufstände, die von Baden aus ganz Deutschland erreichen sollen. Noch im April 1848 will Hecker den Enthusiasmus für die Freiheit im Zuge des in Paris begonnenen „Völkerfrühlings“ nutzen und startet von Konstanz aus. Die Freischaren werden aber bereits wenige Tage später bei Kandern und Freiburg von fürstlichem Militär besiegt. Im September 1848 wird der zweite Aufstand von Struve und wenigen Getreuen, darunter seine Frau Amalie Struve, im französischen und schweizerischen Exil organisiert. Im grenznahen Lörrach ruft Struve unter dem Motto „Wohlstand, Bildung, Freiheit für alle“ erstmals planvoll die deutsche Republik mit besonderer Betonung auf sozialer Gerechtigkeit aus. Aber auch dieser Aufstand scheitert militärisch nach wenigen Tagen (Merk 2023).
Einzug Gustav Struves in Lörrach am 21. September 1848, Leipziger Illustrierte Zeitung, Quelle: Dreiländermuseum Lörrach
Nach der Ablehnung der Reichsverfassung durch zahlreiche Fürsten im Frühjahr 1849 ist die Empörung in der Bevölkerung in vielen deutschen Staaten groß. In Baden organisieren sich Bauern, Handwerker und Bürger in den meist kleinen Städten schon in den Wintermonaten in einem landesweiten Netzwerk von rund 500 demokratischen Volksvereinen – an manchen Orten werden sie auch von Frauenvereinen unterstützt. Der Mannheimer Anwalt Lorenz Brentano übernimmt an der Spitze der Volksvereine die Regierungsgewalt, nachdem der Großherzog geflohen und das Militär zu den Aufständischen übergelaufen war. Ein Landtag wird gewählt und für wenige Wochen ist Baden eine Republik. Doch die militärische Übermacht der vom Großherzog zu Hilfe gerufenen Bundestruppen ist im Sommer 1849 siegreich: Mit der Aufgabe der von den Republikanern verteidigten Festung Rastatt am 23. Juli 1849 endet die Revolution in Deutschland.
Die Grenzregion um die badische Amtsstadt Lörrach ist die einzige Region in ganz Baden, die an allen drei Aufständen teilnimmt. Dabei ist vor allem die Rolle der Nachbarländer bei der Netzwerkbildung der Akteure und der Vorbereitung von Erhebungen oder als Rückzugs-, Flucht- und Asylorte von hoher Bedeutsamkeit (Merk et al. 1998).
UNTERDRÜCKTE ERINNERUNG
Doch am Ende steht die rücksichtslose Niederschlagung der Revolution durch Bundestruppen unter preußischer Führung nach dem Motto „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“. Die Sieger schreiben, wie immer, Geschichte (Merk 2004). Im konservativen Basel (im Gegensatz zum fortschrittlichen Kanton Basel-Landschaft) wird das badische „Abenteuer 1848“ zum Fastnachtsmotiv. In den deutschen Staaten malen Spottlieder wie „Der große Hecker“ oder „Der Struwwelputsch“ ein Bild hitzköpfiger, dilettantischer Revoluzzer ohne Durchblick und Erfolg. Die offizielle deutsche Geschichtsschreibung verherrlicht bald die Reichseinigung 1870/71 „von oben“ durch Otto von Bismarck – der Freiheitsgedanke tritt zurück und die Archive sind für die Erforschung der lokalen Demokratiegeschichte von unten für Jahrzehnte gesperrt.
Die Mutter des standrechtlich erschossenen Revolutionärs Friedrich Neff muss den Grabstein-Spruch für ihren Sohn auf dem Dorffriedhof von Rümmingen ausmeißeln lassen – erst nach 1918 kann er wieder angebracht werden. Nach der Schlacht auf der Scheideck, in der Bundestruppen die Freischaren unter Friedrich Hecker schlugen, errichtet die Familie des Generals von Gagern dort 1890 einen Gedenkstein. Aber erst 1967 wird dort in ähnlicher Form an die getöteten Revolutionäre und einfachen Soldaten erinnert. Eine Ausnahme ist der Lörracher Gastwirt und Politiker Marcus Pflüger (Hoécker 2019). Als 24-Jähriger fungiert er bei Gustav Struve als Kommandant der Lörracher Bürgerwehr. Seinen freisinnigen Idealen bleibt er später auch als Kommunalpolitiker, als Förderer von Eisenbahn und Bankwesen sowie als langjähriger Landtags- und Reichstagsabgeordneter treu. So ist es nur folgerichtig, dass er 1898 eine der wenigen öffentlichen Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum der Revolution ausrichtet.
PIONIERARBEIT IN DER WEIMARER REPUBLIK
Auf nationaler Ebene leistet der Historiker Veit Valentin mit seiner Geschichte der Deutschen Revolution von 1848−1849 Pionierarbeit, bleibt aber in der Weimarer Republik ein Außenseiter. Auch Forschungen auf regionaler Ebene setzen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und des Kaiserreichs ein. So würdigt etwa der Müllheimer Verleger Theodor Scholz auf der Grundlage nun zugänglicher Archivalien in den 1920er Jahren erstmals faktenreich die demokratischen Revolutionäre von 1848/49 (Merk 2019). In seinen Aufsätzen zum 75-jährigen Jubiläum 1923 verwahrt er sich dagegen, „das ‚tolle Jahr‘ 1848 mit lächelnder Geringschätzung´ abzutun“, bringe es doch „eine aus tiefsten Tiefen aufgewühlte Volkserhebung im Rahmen einer europäischen Bewegung mit weitblickenden politischen und sozialen Zielen“ hervor (Scholz 1923).
Revolutionsdarstellung von Theodor Scholz, 1926, Quelle: Dreiländermuseum Lörrach
Ungeachtet harter politischer Auseinandersetzungen identifizieren sich die demokratischen Parteien in Teilen mit der badischen Revolutionsgeschichte. Parteiübergreifend wird die gerettete Lörracher Bürgerwehrfahne von 1848 nun auch für aktuelle Veranstaltungen des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold genutzt. Alle Bemühungen der 1920er Jahre können indes nicht verhindern, dass nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten alte Geschichtsbilder wieder propagiert werden. Das Ziel der nationalen Einheit wird ins Nationalistische übersteigert, der Freiheitsbegriff umgedeutet, die Gefahr vom „Abgrund der internationalen Revolution“ (Rapp 1937: 277) beschworen.
BUNDESREPUBLIKANISCHES STAATSCREDO
Nach der Katastrophe von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg wird das 100-jährige Jubiläum im Jahr 1948 nicht nur in der Frankfurter Paulskirche nachdenklich begangen. In Südbaden zeigt die französische Militärregierung eine umfangreiche Ausstellung zur Revolution 1848/49 in Freiburg. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss sieht die Erinnerung als Mahnung und Verpflichtung für eine demokratische Entwicklung nach (west-)europäischem Vorbild – passend zum Staatscredo der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Marxistische Geschichtsdeutungen spielen dagegen in Lörrach und Südbaden kaum eine Rolle.
1974 wird auf Initiative von Bundespräsident Gustav Heinemann im nordbadischen Rastatt die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte eröffnet. Auch in Lörrach betonen zwei Jubiläums-Ausstellungen 1948 und 1974 die demokratisch-freiheitlichen Traditionslinien. In den zahlreichen Ortschroniken der Nachkriegszeit aber dominiert noch immer das von den Gegnern geformte Geschichtsbild vom tragischen, verantwortungslosen Abenteuer. Seitenlang werden die Akten zu den Strafaktionen und Entschädigungszahlen referiert, die Ziele und Teilerfolge der Aufständischen hingegen nur knapp behandelt.
REGION UND EUROPA
Erst das 150-jährige Jubiläum der Revolution bringt 1998 nahezu flächendeckend in Deutschland, insbesondere im deutschen Südwesten, eine Wende. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende der Teilung Europas stellen Publikationen, Ausstellungen, Filme, Vortragsreihen, aber auch große Freiheitsfeste die langfristigen demokratischen Errungenschaften von 1848/49 heraus. Die Revolution wird jetzt endgültig populär. Gestärkt wird diese positive Identifizierung vor Ort durch eine Portion badischen Lokalpatriotismus: Baden wird als liberales Musterland unter den deutschen Staaten im 19. Jahrhundert gefeiert (Badisches Landesmuseum 1998).
In Lörrach geben 1998 eine erstmals trinational ausgerichtete Museumsausstellung mit Außenstationen im ganzen Stadtgebiet, ein reichhaltiges Veranstaltungsprogramm, ein hochkarätig besetztes Symposium und ein großes, bürgerschaftlich getragenes Open-Air-Theater im Zentrum der Stadt den Impuls, 2002 eine Bürgerstiftung zu gründen. Um diese Entwicklung langfristig zu verankern, wird seit 2015 alljährlich am Jahrestag der Ausrufung der Republik in Lörrach, am 21. September, der Tag der Demokratie gefeiert. Eine jeweils gegenwartsbezogene Revolutionsrede, eine gemeinsame „Revolutionssuppe“, Veranstaltungen vielfältiger Gruppen und seit 2023 auch ein festlicher „Gala-Abend für alle“ gehören zum Programm (Frick 2023).
Zum 175-jährigen Jubiläum der Revolution 2023 fördert die neu gegründete Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte die Entwicklung eines Netzwerks Demokratiebildung an der Volkshochschule im Alten Rathaus, dem Ort der Republikausrufung. Im Dreiländermuseum zeigt die zweisprachige Sonderausstellung „Der Ruf nach Freiheit/L’appel à la liberté“ aktuelle und trinationale Bezüge auf – und dient als Grundlage zur Erneuerung der Demokratieabteilung in der Dauerausstellung.
Lörracher Ausstellungsplakat 2023, Quelle: Dreiländermuseum Lörrach
Was prägt die Lörracher Erinnerungskultur an die Revolution 1848/49 spezifisch? Nach dem langen Weg ihrer Durchsetzung gegen widerstrebende Interessen (und auch gegen Gleichgültigkeit), ist es zum einen die selbstbewusste Betonung einer eigenen, wenn auch zeitweise verschütteten demokratischen Tradition, bei der Gustav Struves Lörracher Forderung „Wohlstand, Bildung und Freiheit für Alle!“ stets mit aktuellen Fragestellungen verknüpft wird. Zum anderen sind es die internationalen, europäischen Bezüge. Eine gemeinsame, europaweite Erinnerungskultur an 1848 gibt es trotz vieler neuer und wertvoller Publikationen (jüngst etwa von Christopher Clark) bis heute nicht. Nach wie vor überlagern nationale Narrative die europäische Perspektive. In der Schweiz wird das Jahr 1848 vor allem als Grundlegung des modernen demokratischen Bundesstaats gesehen. In Frankreich gilt 1848 gegenüber der großen Revolution von 1789 als „quantité négligeable“. Und in Deutschland steht die Komplexität des Geschehens mit den Zielen Freiheit, Einheit und soziale Gerechtigkeit weiterhin im nationalen Fokus.
Die Erinnerung an 1848/49 in der Grenzregion Lörrach bietet dagegen die Chance, ganz konkret Bezüge zwischen diesen Entwicklungen zu erkennen und das Gemeinsame im Ringen um die Durchsetzung von Freiheits- und Menschenrechten in Europa herauszustellen.
LITERATUR
Badisches Landesmuseum (Hrsg): 1848/49. Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998.
Frick, Lars: Demokratiegeschichte in Lörrach, in: Stadt Lörrach (Hrsg.): Stadtbuch Lörrach, Lörrach 2023, S. 8−15.
Hoécker, Carola: Vom Freischärler zum Parlamentarier. Briefe des Reichstagsabgeordneten Marcus Pflüger (1824–1907), Karlsruhe - Bretten 2019.
Merk, Jan/Bürgel, Helmut/Moehring, Markus (Hrsg.): Lörrach 1848/49. Essays, Biografien, Dokumente, Projekte, Lörrach 1998.
Merk, Jan: „Nationality separates, liberty unites“? The historical commemoration of 1848/49 in Baden, a european frontier region, in: Körner, Axel (Hrsg.): 1848 – a european revolution?, New York 2004, S. 185−206.
Merk, Jan: Theodor Scholz und die Revolution 1849, in: Das Markgräflerland, H. 1 (2019), S. 111−122.
Merk, Jan: Entschieden für die Republik. Der soziale Demokrat Gustav Struve und der Lörracher Aufstand im September 1848, in: Stadt Lörrach (Hrsg.): Stadtbuch Lörrach, Lörrach 2023, S. 22−29.
Rapp, Alfred: Deutsche Geschichte am Oberrhein, Karlsruhe 1937.
Scholz, Theodor: Ein Putschversuch vor 75 Jahren, in: Basler Nachrichten, 11.10.1923, o.S.
Valentin, Veit: Geschichte der Deutschen Revolution von 1848−1849, Berlin 1930 und 1931.